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Hildegard, eine Prophetin für das dritte Jahrtausend Pater Pierre Dumoulin

Pater Pierre Dumoulin

Können Sie uns die heilige Hildegard vorstellen?
Diese Frau des 12. Jahrhunderts ist erstaunlich aktuell: Sie ist ihrer Zeit nicht nur voraus, sondern greift sogar Leonardo da Vinci vier Jahrhunderte vor, nimmt Dante vorweg und bereitet Pasteur vor. Sie war lange Zeit in Vergessenheit geraten, da sie zu genial war, um verstanden zu werden. Heute wird wieder auf ihr Werk hingewiesen und man entdeckt, wie modern diese Frau in vielerlei Hinsicht ist, die doch aus dem hohen Mittelalter stammt!
Das zwölfte Jahrhundert ist eine Zeit, die vor Leben und Kunst sprudelt. Es ist das Jahrhundert der Kreuzzüge, der großen romanischen Kirchen, der Abtei von Moissac, des heiligen Bernhard, das Jahrhundert von Cluny, von Kaiser Friedrich Barbarossa… In diesem Jahrhundert, dessen Helden im Allgemeinen Männer sind, spricht Hildegard mit Macht. Die Klausnerin hat sogar vier Predigt­reisen durch ganz Europa unternommen, die tausende von Menschen angezogen haben, so dass sie auf den Vorplätzen der Kathedralen sprechen musste, wo die Menschen sich dicht gedrängt geschart hatten.
Diese von Gott erfüllte Frau, die vom Geheimnis der Erlösung gefesselt war, lehrt die Ausgeglichenheit. Sie hegt eine leidenschaftliche Begeisterung für das Wissen, die Kunst, die Schönheit: Sie hat Werke der Architektur, der Literatur, der Miniatur angeregt und hat uns die größte Sammlung von Liedern aus dem Mittelalter hinterlassen: 77 musikalische Kompositionen und ein Oratorium. Sie schenkt uns auch die beiden ältesten Bücher der Arzneikunde aus Pflanzen: «Physica» und «Causa et Curae». Dem sind noch etwa fünfzehn Bücher, 450 Briefe und eine umfangreiche Sammlung von Gedichten und Predigten hinzuzufügen. Sie ist ganz sicher die größte weibliche Schriftstellerin dieser Zeit. Sie unterhielt einen Briefwechsel mit den Päpsten, dem Kaiser und anderen Würdenträgern ihrer Zeit, sie stand in Kontakt mit Abt Suger von Saint-Denis bei Paris, dem heiligen Bernhard und der seligen Elisabeth von Schönau, um nur diese drei zu nennen. Sie hat also das gesellschaftliche Leben Europas in ihrer Zeit zutiefst beeinflusst. Was die Medizin, die Kosmologie, die Künste, die Psychologie anlangt, so bietet sie eine erstaunliche Botschaft, die heute neu entdeckt wird: Wie viele neue Richtungen der Medizin beziehen sich auf Hildegard!
In einem Jahrhundert, in dem die Kämpfe zwischen den Staaten, die Schismen und der Sittenverfall im Klerus einen großen Pessimismus bezüglich der Menschheit wecken konnten, öffnet Hildegard in ihrer geistlichen Begleitung die Herzen für die Hoffnung und das Vertrauen. Man kann hier und da Aufrufe zum Vertrauen im geistlichen Leben zusammentragen: «Ängstige dich nicht so sehr, denn Gott sucht nicht immer das Himmlische in dir!» «Der Herr hält dich in seiner Hand, so dass du dich in keiner Weise auf deine eigene Gewissheit zu stützen brauchst… Gott sieht dich und kennt dich. Er wird dich nie im Stich lassen.» «Hab keine Angst, fliehe nicht, denn der Gute Hirte sucht in dir sein verlorenes Schaf.»
War Hildegard eine Mystikerin?
Ich spreche lieber von einer Prophetin. Sie ist das Sprachrohr (das ist der Sinn des Wortes Prophet) dessen, was sie empfängt. Seit ihrer frühen Kindheit «sah und hörte» sie dank des «lebendigen Lichtes» eine Seite der Wirklichkeit, die wir nicht wahrnehmen und die in gewisser Weise das «Innenleben» der Welt anlangt. Bei ihren Visionen sind ihre fünf Sinne am Universum beteiligt, in das sie eingetaucht wird. Sie übermittelt die empfangene Botschaft in einem sehr lebendigen Stil, ohne etwas Persönliches hinzuzufügen. Sie hat uns also drei wunderbare Bücher hinterlassen, die einen vollständigen Katechismus darstellen. Das erste, «Scivias» (Kenne die Wege des Herrn) übermittelt die großen Linien dessen, was man «wissen» muss, und zwar von der Schöpfung über die Erbsünde und die ganze Heilsgeschichte bis hin zu den Sakramenten. Das zweite, das «Buch der Verdienste des Lebens», lehrt, wie man richtig lebt, und beschreibt ausführlich 35 Paare von Lastern und Tugenden. Das dritte, das «Buch der Göttlichen Werke», verweist auf den Platz des Menschen im Universum und auf seine Mission. Es ist eine echte «theologische Summe».  
Inwiefern ist ihre Botschaft aktuell, und warum hat der Papst gerade sie erwählt?
Unter zahlreichen Gründen will ich fünf Hauptgründe angeben:
– Die Natur des Menschen (christliche Anthropologie): Leib, Seele und Geist, der Mensch bildet ein unteilbares Ganzes. Dies hat Auswirkungen in der Medizin, der Bioethik, der Psychologie usw. Die Sorgsamkeit, die man dem Embryo oder dem Mensch am Ende des Lebens zuteilwerden lässt, die Gentherapien und anderes sind nicht von einer anthropologischen Konzeption zu trennen: Als Fachleute sprechen wir nicht über dasselbe, wenn wir über «den Menschen» sprechen! Die drei Bücher der Visionen Hildegards entwickeln eine geniale Synthese der christlichen Anthropologie. Auf diese Antwort wollte der Papst wohl unsere Zeitgenossen hinweisen.
– Die Mission des Menschen im Universum. Nach Jahrzehnten des Rationalismus und der Wissenschaftsgläubigkeit, in der alles in den Händen der Menschen aufzublühen schien, und in der der «Fortschritt» an die Stelle der «Gottheit» getreten war, tastet der moderne Mensch sich heute unsicher voran. Er entdeckt, dass er klein, nackt, ohnmächtig ist angesichts eines Universums, das ihn übersteigt: Alles schien unter Kontrolle zu sein, und plötzlich erwachen Vulkane wieder, die Erde bebt, Sturmwellen zerstören alles auf ihrem Weg, neue Krankheiten tauchen auf, der Terrorismus überflutet den Planeten, neue totalitäre Systeme entwürdigen die Menschheit, das wirtschaftliche Gleichgewicht gerät durcheinander…
Der Mensch, den Hildegard vorstellt, lebt nicht aussichtslos auf einer kleinen Kugel, die sich mit großer Geschwindigkeit um einen winzigen Funken an der Grenze einer Galaxie unter Milliarden anderer Galaxien dreht! Er ist riesig, er erfüllt das Universum, denn er ist das einzige bewusste Wesen! Er allein kann dem Lauf der Welt eine andere Richtung geben! Hildegard gibt dem Menschen seine Würde zurück.
Hildegard von Bingen wirft einen ausgeglichenen und verantwortungsvollen Blick auf den Menschen. Sie beschreibt die Prinzipien der Harmonie des Universums und des Menschen und warnt die Menschheit vor den Folgen ihrer Nicht-Beachtung. Auf individueller Ebene bietet sie eine Lebensform, eine Ernährung, eine Gesamtheit von Therapien an, die zum Ziel haben, die Gesundheit in einem geschwächten Organismus wieder herzustellen. Innerhalb ihrer Gemeinschaft hat sie durch die Musik, das Theater, die Kenntnis der Pflanzen und alle Künste die therapeutischen Mittel aufgewandt, um diese Harmonie zu stärken und den Menschen als Ganzes zu behandeln, und nicht nur die Organe eines Leibes, der von seiner Seele losgelöst ist. Als Äbtissin einer Gemeinschaft, die manchmal schwer zu führen war, bietet Hildegard auch eine Sicht der Gesellschaft an, die die Person achtet, die Talente eines jeden aufwertet und sich nicht damit begnügt, die einzelnen Menschen in einer vagen Demokratie nebeneinander leben zu lassen. Und schließlich stellt Hildegarde den Menschen wegen seines im Universum einmaligen Bewusstseins in den Mittelpunkt der Kosmologie, und betont seine Verantwortung: Die Welt ist ein Kräftegleichgewicht, in dem Harmonie herrscht und auf das sich der Mensch einlassen kann, um die Welt zu einer «Symphonie» zu machen, oder das er durcheinander bringen kann, so dass es sich schließlich gegen ihn selbst wendet. «Die Seele ist eine Symphonie und sie macht aus allem eine Symphonie», sagt Hildegard.
– Die Umweltschutz, denn aus dieser Sicht des Menschen und des Universums ergibt sich eine Verantwortung. Hildegard warnt den Menschen vor der Ungerechtigkeit eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Lebens, das die Gebote Gottes und die Nächstenliebe verachtet: Der tiefe Grund der derzeitigen Unausgewogenheit befindet sich im Herzen des Menschen. Letztendlich sind es die Sünde des Egoismus, die Jagd nach Profit, die soziale Ungerechtigkeit, die die Erde zerstören und den ganzen Kosmos verschmutzen. Die Wurzel des Übels, das das Universum aufzehrt, steckt im Herzen des Menschen, und das Schicksal des Planeten geht durch eine tiefe Umkehr nicht nur der Verhaltensweisen, sondern auch der Herzen. Manchmal, wenn sie über den Schmutz spricht, den der Mensch in der Welt verbreitet, scheint sie unsere Epoche zu beschreiben und kündigt die schrecklichen Folgen an, von denen wir bereits einen Vorgeschmack haben.  
– Die Gesamtheit der Kenntnis: Alles Menschliche interessiert sie, sie bleibt nicht in den Mauern ihres Klosters eingesperrt und taucht nicht in ihrem Gebetbuch unter. Sie liebt alles, was dem Menschen erlaubt, besser zu leben und zu dem Ziel zu gelangen, für das er erschaffen wurde. Sie sieht Gott in allem und interessiert sich also für alles!
– Der Platz der Frau. Heute wütet die Theorie des «Gender»: Sie hat zum Ziel, die natürlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau zu leugnen und die Geschlechter auf eine einfache Übereinkunft zu reduzieren. Der zeitgenössische Mensch ist dabei, seine sexuelle Identität zu verlieren, die natürliche Offensichtlichkeit der Bipolarität zu leugnen, die er in seinem Körper, seiner Seele und seinem Geist trägt. Diese Verneinung ist katastrophal, denn sie führt zur Unfruchtbarkeit. Anstatt dass sich die Person für die Andersartigkeit öffnet, verfällt sie in das Spiel der Spiegel, verliert ihre Fruchtbarkeit auf allen Ebenen, und sucht im anderen nur noch ihr eigenes idealisiertes Bild. Hildegard hat diese Eigenliebe verurteilt: Sie betont, dass die Komplementarität zwischen Mann und Frau für die Fruchtbarkeit der Menschheit notwendig ist. Sie schafft die Grundlage für einen gesunden Feminismus, der nicht aus der Einforderung der Rechte des anderen besteht, sondern aus der Bekräftigung einer Gleichheit, in der die Unterschiede als wechselseitige Bereicherung wahrgenommen werden. Es geht nicht um eine künstliche Gleichstellung, sondern um eine Bewunderung des «anderen», der sich in eine demütige Achtung und Annahme verwandelt. In ihren Briefen, insbesondere an die Notabeln und die Prälaten, behauptet die Äbtissin ihre Identität als Frau und nützt sie aus, um die Männer zu zwingen… männlich zu sein. Deshalb hören sie auf ihre Ratschläge: Sie besteht nicht aus einer Rivalität, sondern aus Komplementarität. Hildegard betrachtet die Welt und ihre Akteure mit dem Blick, den die Menschen brauchen. Hildegard ist keine Feministin… sie ist feminin! Ihr Werk besingt die Ehre der Frau: In Demut nimmt sie ihren Platz inmitten der Gesellschaft ein. Sie fordert ihn nicht ein, sie nimmt ihn ein. Auch das ist die Herrlichkeit Gottes.
Ist Hildegard eine fröhliche Heilige?
Gemäß der großen Tradition der Kirche ist der Trübsinn in ihren Augen eine Sünde. Der Christ ist es sich schuldig, fröhlich zu sein, weil er gerettet ist. Hildegard spricht oft von der «Lebenskraft» (viriditas), die man in sich bewahren und entfalten muss, zunächst indem man die Seele in Harmonie mit Gott bringt, und dann indem man sich korrekt ernährt und behandelt, ohne Taten zu vollziehen oder Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, die uns in Missstimmung, Melancholie, schwarze Gedanken stürzen. Hildegard strömt vor Lebensfreude über: Wie könnte sie sonst zwei Klöster leiten und so viele junge Frauen in ihre Nachfolge ziehen? Für sie hat sie ihre Melodien komponiert, die die Seele zum Singen bringen, und sogar eine Art Oratorium oder Oper, die sie von ihren jungen Nonnen mit Kostümen und Tänzen aufführen ließ. Schalkhaft wie sie war, wies sie dem Seelsorger, dem einzigen Mann des Klosters, die Rolle des Teufels zu! Hildegard weiß, dass der Trübsinn der schlimmste Feind des geistlichen Lebens ist. Sie hat sogar die «Gewürzplätzchen» erfunden, die in gute Laune versetzen!
Zum Abschluss: Die Öffnung für einen anderen Blick.
In Hildegards Augen war die Welt strukturiert und schön. Sie konnte über die Dinge und die Menschen hinausblicken und das Göttliche darin erkennen. In ihrem Blick konnte sie widerspiegeln, was sie mit den Augen des Herzens erkannt hatte, und die Menschenscharen begaben sich fasziniert in ihre Nachfolge. Besteht das Leben des Christen nicht darin, für einen  anderen Blick wach zu werden? Dann können alle Bereiche das innere Leben unterstützen, alles wird heilig, und vor allem wird jeder Mensch «eine Einfriedung der Wunder Gottes». So verwirklicht sich das Reich Gottes in den Herzen und wird wahrnehmbar. Möge Hildegard uns einladen, Gott in uns handeln zu lassen – zum Wohl aller, die von unserem Blick in Erstaunen versetzt werden… Die Zivilisation der Liebe ist heute am Werk!

P. Pierre Dumoulin

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